Schöne bunte Welt, unsere Welt in Farben. Blau-weißer Freudentaumel in Bochum, die für abgestiegene Schalker die Fahne hochhalten; und auch Gelb-Schwarz weht überall, wo man nach dem Pokal die Champions League-»Quali« feiert. Und wo das farbenfrohe Bremer Grün fehlt, flattern schon jetzt die Fürther Vereinsfahnen, ebenfalls Grün-Weiß. Da braucht es keinen Fahneneid; denn es gibt schon längst »echte Liebe«, unterlegt mit inbrünstigen Treueschwüren: »You never walk alone«. Da sage noch einer, Fahnen würden keine Identität stiften. Das führt zwar manchmal auch zu körperbetonten Auseinandersetzungen, die natürlich in keiner Weise tolerabel sind: unreife Übersprungshandlungen von Anhängern, die das spielerische Aushandeln von Stärke (und Finanzmacht) noch nicht verstanden haben.
Denn wer erkennt nicht den zivilisatorischen Fortschritt darin, wenn nationale Identitäten sich vor allem in Sport- und Kulturveranstaltungen behaupten. So auch beim European Song Contest an diesem Wochenende in Rotterdam, wo euphorisierte Fangruppen ihre nationalen Symbole als farbige Winkelemente (miss)brauchen. Eine hübsche Idee, internationale Konkurrenz friedlich in Liederwettbewerben statt auf den Schlachtfeldern auszutragen. Man muss den gruftigen Italo-Rock ja nicht mögen als Ausweis paneuropäischen Musikgeschmacks; und wenn Europa sich so in Harmonie übt (Dissonanzen nicht ausgeschlossen), kann man sogar den vorletzten Platz für den deutschen »No Hate«-Beitrag verschmerzen.
Die Welt in Farben. Bunt. Nicht schwarz-weiß. Nicht: ICH oder DU, sondern WIR, so bunt und vielfältig, wie das Leben nun einmal ist. Diversität zulassen - das meint, andere Meinungen gelten lassen, den Anderen gelten lassen, obwohl und weil er bzw. sie anders ist. Was ist so schwer daran? Man muss ja nicht die eigene Überzeugung verleugnen. Wir sollten uns schämen, dass Ausgrenzung, Rassismus, Antisemitismus … immer noch ein Thema ist - nach Jahrhunderten bemühter Zivilisation und Kultur! An Pfingsten lernen wir Christen, Einheit in Vielfalt wieder neu ins Miteinander umzusetzen: »Seid demütig, friedfertig und geduldig, ertragt einander in Liebe und bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch das Band des Friedens! Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung …, ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist« (Eph 4,5). Unsere Reifeprüfung, ob wir die göttliche Farbenlehre verstanden haben: Gott mag uns bunt – egal, welchem Glauben wir anhängen.
(Peter Klasvogt)
Frühere Beiträge:
RETRO oder AVANTI? - Die »junge Lust am Gestrigen« als Ausdruck der individuellen Gegenwartskrise? (12.04.2021)
Ein Bekenntnis vorweg: Ich besitze keinen TikTok-Account und kenne mich damit auch nicht besonders aus. Wenn man allerdings etwas über neue Jugendtrends wissen will, darüber, wie Teens und Twens so »ticken«, dann ist TikTok doch auskunftsfähig. Das hat nicht nur die Mode-Industrie entdeckt. Die neuen Kollektionen orientieren sich am Retro-Trend einer ganzen Generation. Deren nostalgische Selbstinszenierung ist nicht nur stilbildend. Sie ist auch ein Markt.
Doch woher kommt die »junge Lust am Gestrigen« (ZEIT[1])? Denn Retro ist mehr als nur Mode, sondern ein Lebensgefühl. Da inszenieren sich 15- bis 25-Jährige in Video-Clips als »stille, verträumte, bildungsbeflissene Menschen, die in düsteren Bibliotheksräumen posieren, vor gewaltigen Regalen mit ledergebundenen Bänden, oder sie laufen zu dramatisch schwelender Streichermusik bei schlechtem Wetter an gotischen Gebäuden vorbei«. Das allgegenwärtige Gefühl der Isolation wird, je länger der Corona-Lockdown dauert, nicht beklagt oder betrauert, sondern ästhetisch überhöht und ins Romantisch-Melancholische gewendet. »Generation Z«, die sich in den »Leiden des jungen Werthers« (Goethe) wiederfindet; die existenzialistischen Denker wie Schopenhauer, Kierkegaard oder Nietzsche für sich entdeckt und deren Fragen nach Sinn und Bedeutung der menschlichen Existenz, der Angst und Einsamkeit des Einzelnen.
Je unsicherer und ungewisser die Zukunft ist, desto größer ist die Faszination einer Vergangenheit, die man nie erlebt hat, von der man sich aber Stabilität, Kontinuität, Identität verspricht. Je größer das Gefühl der Enge und Isolation, desto reizvoller der Ausflug ins Imaginäre. Doch wie geht das: den Aufbruch ins Ungewisse zu wagen – und doch seiner selbst gewiss zu sein? »Man muss weggehen können und doch sein wie ein Baum: als bliebe die Wurzel im Boden, als zöge die Landschaft und wir ständen fest« (Hilde Domin).
So waren auch die Ostererfahrungen, von denen die Evangelien berichten. Die Weggefährten des ermordeten Jesus sind verstört, ratlos, gefangen im Kokon ihrer Traurigkeit. Wie soll es weitergehen, wenn die Hoffnung stirbt? Da will man wenigstens die Erinnerung an »gute alte Zeiten« konservieren, und es braucht Weggemeinschaft, wo man sich den ganzen Frust von der Seele redet, aber auch aufhorcht, wo sich der Nebel des Nichtverstehens lichtet und Neues sich anzeigt. »Brannte uns nicht das Herz, als er mit uns auf dem Weg war«, so bekennen sie im Nachhinein, und es gehen ihnen die Augen auf: dass das Leben nicht im Nichts versinkt, sondern zur Fülle reifen will. Also nicht Retro, sondern Avanti. Wir können dem Leben trauen, denn es kommt von Gott.
Priorisierungen (01.03.2021)
Dieser Tage haben wir ein neues Wort gelernt: Priorisierungen. Um es einfach zu sagen: wenn Millionen Menschen gleichzeitig durch eine Tür gehen wollen, sprengen sie den Rahmen. Es hilft nichts: man muss regeln, wer zuerst durch die Tür darf und wer erst später hindurchkommt. Mag ich auch subjektiv überzeugt sein, ein Recht auf eine Vorzugsbehandlung zu haben, so muss ich mich doch damit abfinden, wenn die Prioritäten anders gesetzt werden. Priorisierungen können im Einzelfall ungerecht sein, aber es bleibt einem nichts anderes übrig, als geduldig zu warten, bis man selbst an der Reihe ist. Vordrängeln gilt nicht – nicht in der Schlange beim Bäcker, nicht im Stau auf der Autobahn, auch nicht auf der Warteliste beim Impfen.
Das ist nicht leicht, denn die Ungeduld wächst und die Nerven liegen blank. Man kann gegen die vermeintliche Benachteiligung ankämpfen, sich lautstark zu Wort melden oder sich frustriert und beleidigt zurückziehen. Man kann aber auch die wahrnehmen, denen es ähnlich geht, die ebenfalls zurückstehen und jene unbefriedigende Situation aushalten müssen. Da ist es doch ein Gebot der Fairness, Rücksicht zu nehmen auf alle, die noch schlechter dran sind und denen zuerst geholfen werden muss. Warum nicht mit Gelassenheit und Großzügigkeit ihnen den Vortritt lassen?
Ich muss in diesen Tagen oft an Franz von Assisi denken, der ein Draufgänger gewesen sein muss, frei nach der Maxime: »rausholen, was drin ist«. Doch diese Lebenseinstellung hat bei ihm auch Wunden geschlagen, was letztlich dazu geführt hat, noch einmal andere Prioritäten zu setzen. In einem ihm zugeschriebenen Gebet heißt es: »Herr, lass mich trachten, nicht, dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste; nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe; nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.« Mir helfen diese Gedanken, nicht um mein (vermeintliches) Recht zu kämpfen und mich in der Warteschlange, wenn möglich, weiter nach vorne zu schieben, sondern mit all denen solidarisch zu sein, die ebenso geduldig (oder auch weniger gelassen) warten, bis sie »dran« sind. Mit manchen komme ich dabei unverhofft ins Gespräch, und ich erahne, dass auch der letzte Abschnitt des Gebetes eine tiefe Lebenserfahrung zum Ausdruck bringt – tröstlich in einer Zeit, in der viele Menschen für immer zurückbleiben müssen: »Denn wer sich hingibt, der empfängt; wer sich selbst vergisst, der findet; wer verzeiht, dem wird verziehen; und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben.«
Corona-Weihnacht (07.12.2020)
»Mir fehlt der Engel«, entfuhr es einer der Umstehenden, die zusahen, wie das Gerüst für den Mega-Weihnachtsbaum wieder abgebaut wurde. Kein Weihnachtsmarkt. Kein Weihnachtsbaum. Und wie es aussieht, muss die Stadt in diesen Corona-Zeiten ohne den Engel auskommen, jene Leuchtfigur, die in anderen Jahren die Spitze des »größten Weihnachtsbaums der Welt« krönt.
Dabei bräuchten wir gerade in Corona-Zeiten so sehr den göttlichen Beistand, spirituelle Energien, um gegen die trübe Corona-Stimmung anzukommen. Man merkt, wie bei vielen die Nerven blank liegen, der Ton gereizt ist, das Alleinsein den Menschen zusetzt. Der verlängerte Teil-Lockdown zehrt an den Kräften, und manches spricht dafür, dass sich das noch bis weit ins nächste Jahr hinzieht. Mir scheint, dass wir erst in dieser Extremsituation merken, was uns fehlt. Wir leben von Beziehungen, von zwischenmenschlichen Kontakten: dem persönlichen Gespräch, einer liebevollen Umarmung.
Bei Mitch Albom lese ich von seinem Besuch bei seinem alten Professor Morrie, der an fortschreitender Muskellähmung leidet, das qualvolle Sterben vor Augen. Seine Lebensweisheit: »Am Anfang des Lebens, wenn wir kleine Kinder sind, brauchen wir andere zum Überleben, nicht wahr? Und am Ende des Lebens, wenn du so wirst wie ich, brauchst du andere zum Überleben, nicht wahr?« Seine Stimme sank zu einem Flüsterton. »Aber das Geheimnis ist: Dazwischen brauchen wir die anderen ebenfalls.« (aus: Dienstags bei Morrie)
Mir scheint, dass wir in den Monaten der Pandemie diese Lektion neu lernen: dass die Erfahrung eigener existenzieller Bedürftigkeit uns auch sensibler macht für die Bedürftigkeit des anderen; und dass wir die Spielräume, die wir haben, nutzen können, um dem anderen das Gefühl des persönlichen An-Denkens zu geben, des Trostes, der Verstehens, ob per Telefon, E-Mail, WhatsApp … - oder dass wir ganz klassisch wieder einmal einen handgeschriebenen Brief verschicken.
Mag sein, dass uns der Engel über dem Weihnachtsmarkt fehlen wird. Dabei sind sie schon längst unter uns, wunderbare Menschen voller Anteilnahme und Hilfsbereitschaft, die sich mit ihren Begabungen und Fähigkeiten einbringen, die ihre Zeit investieren und tatkräftig mit anpacken. Einige wie die »Engel der Nordstadt« kennen wir bereits. Andere müssen wir noch identifizieren. Nicht auszuschließen, dass manch einer auch in uns selbst solch ein engelgleiches Wesen erkennt. Man muss es ja nicht an die große Glocke hängen. Dann ließe sich auch der verlorene Engel auf dem Weihnachtsmarkt leichter verschmerzen. Denn jene menschenfreundlichen Engel bleiben, auch wenn Weihnachten schon längst vorüber ist.
Zerplatzte Träume. Neue Chancen (26.10.2020)
»Wir müssen Ihnen leider mitteilen …« – so liest und hört man es in diesen Tagen häufig, wenn wieder einmal eine Veranstaltung, ein Treffen, eine Tagung absagt wird, oft mit dem Zusatz: »unter den gegebenen Umständen ist es leider nicht zu verantworten …«. Der Grund ist immer derselbe: Corona. Diesem unsichtbaren Virus ist schon so mancher Urlaub zum Opfer gefallen, musste manch große Hochzeitsfeier (»einmal im Leben«!) dann doch in kleinem Rahmen gefeiert werden. Vom Fußball – der »schönsten Nebensache der Welt«, nur leider ohne Publikum – einmal ganz abgesehen. Und wer weiß, ob Weihnachten mit Familie und Freunden überhaupt noch stattfinden kann!
Eine Zeitlang kann man all das ja noch gut ertragen, aber mit der Dauer und mit der Unbestimmtheit wächst die Ungeduld. Natürlich kann man sich auch mit Maske zulächeln, und natürlich kann man sich auch auf Video-Konferenzen austauschen und zu allen potentiellen Gefährdern und Superspreadern auf Distanz gehen. Doch mit zunehmender Zeit wird auch deutlich, was uns fehlt: menschliche Nähe, ungezwungene Atmosphäre, heitere Gelassenheit.
Leider! Dieses kleine unschuldige Wort des Bedauerns ist momentan nicht wegzudenken aus unserem Alltag; es setzt sich in den Köpfen fest und vermiest einem die Laune. »Eigentlich wollten wir, hätten wir, könnten wir … Doch jetzt … Leider …« Ein Wörtchen, das die Mundwinkel nach unten zieht und einem die Enttäuschung ins Gesicht malt. Es lässt unsere guten Ideen und großen Pläne noch eine Weile im Raum nachklingen, doch es beschreibt das Leben im Konjunktiv, das eben »leider« gerade nicht stattfindet.
Aber müssen wir uns von unseren geplatzten Träumen die Laune verderben lassen? Was jetzt nicht geht, soll vielleicht auch gar nicht sein. Mich erinnert jedenfalls die Trauer über die unerfüllten Wünsche an die spöttische Bemerkung des französischen Naturwissenschaftlers und Philosophen Blaise Pascal: »Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm von deinen Plänen.« Den leisen Spott möchte man sich verbitten und ahnt doch zugleich, dass den Worten ein tieferer Sinn zugrunde liegt: die Lebenskunst, mit einer gewissen Leichtigkeit und Gelassenheit das annehmen, was ist. Ja sagen zu dem, was kommt. Leben im Augenblick und offen sein für das, was möglich ist. Denn es ist ja durchaus möglich, dass Gott damit auch Gutes im Schilde führt. Wir sollten es nicht verpassen.
Die Qual der Wahl (14.09.2020)
Gefühlt schon seit Jahren steht sie da. »Mama Africa«, wie ich sie insgeheim nenne, mit großem Respekt und stiller Bewunderung: wie sie an der Ampelkreuzung an Dortmunds meistbefahrener Straße den vorbeirauschenden Autos unverdrossen ihr Schild entgegenstreckt: »Jesus rettet«. Wann immer die Ampel auf Grün springt, winkt sie unbekümmert all denen zu, die doch im selben Moment schon an ihr vorbeigezogen sind auf ihrer je eigenen Bahn. - Eine ungewöhnliche Demo mit einem gewöhnungsbedürftigen Slogan: »Jesus rettet«. Straßenmission für einen Augen-Blick, und es ist fraglich, ob der Blick der Vorbeifahrenden auch nur für einen Sekundenbruchteil an ihr und ihrer Botschaft hängenbleibt, geschweige denn weiterwirkt.
Auch wenn es nicht jedermanns Sache ist, so plakativ für die eigenen Ideale, Werte und Überzeugungen zu werben: Die Frage stellt sich gleichwohl: Wofür stehe ich? Stehe ich für meine Überzeugung ein, auch wenn andere nichts davon wissen wollen, aggressiv dagegenhalten oder die Selbstdarstellung mit einem mitleidigen Lächeln quittieren? Die Kandidatinnen und Kandidaten, die in dem zurückliegenden Kommunalwahlkampf »Gesicht« gezeigt haben und öffentlich, auch plakativ für ihre Positionen eingestanden sind, verdienen jedenfalls Respekt, unbeschadet der jeweiligen politischen Richtung.
Als ich kürzlich wieder einmal an jener besagten Ampelkreuzung vorbeikam, musste ich sie erst suchen, jene liebenswürdige Demonstrantin. Diesmal war sie nicht an ihrem angestammten Platz an der Stadtbahn-Haltestelle, sondern hatte die Seite gewechselt. Dort, wo Dortmunds OB-Kandidaten von großflächig aufgestellten Plakatwänden auf die vorbeifahrenden Autos herabschauten, stand »Mama Africa« und ihrer Botschaft: »Jesus rettet«. Was für ein Kontrast! Ich musste über die Doppeldeutigkeit ihrer Botschaft schmunzeln, als ich schon längst an ihr vorbeigefahren war. Mit ihrem kleinen Schild zwischen den großen Wahlplakaten kam sie mir vor wie eine lebendige Mahnung an alle Vorbeifahrenden, die richtige Wahl zu treffen – eine Wahl für das Wohl der Stadt, aber auch für das eigene Leben. Denn was im Letzten trägt und hilft (ja, auch rettet), entscheidet sich nicht an der Wahlurne; das geht es letztlich um eine je persönlichen Richtungsentscheidung. Insofern mag der Appell auch den Kandidatinnen und Kandidaten selbst gegolten haben, die gestern zur Wahl standen. Die eindringliche und auch tröstliche Botschaft: So politisch bedeutsam der Wahlkampf auch gewesen sein mag, und egal, wie die Wahl ausgegangen ist, wer gewonnen oder verloren hat: Es gibt noch etwas Wichtigeres im Leben.
Die Freiheit, die ich meine… (03.08.2020)
Sonne, Strand, Meer. Eine junge Frau springt von einem Segelboot, schwimmt zum Strand, kauft dort eine Sonnenbrille und bezahlt mit ihrer Kredit-Karte, die sie cool aus ihrem knappen Badeanzug zieht. Die Botschaft, so eingängig wie verführerisch: »Die Freiheit nehm‘ ich mir.«
Ein Werbe-Gag der 90er Jahre, der für das Lebensgefühl einer ganzen Epoche steht: das Leben unbeschwert genießen, ungebunden sein, einfach frei. Auch wenn die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen anders aussah: die Werbung bediente ein Versprechen, eine Sehnsucht. Alles ist möglich, alles ist machbar. Und manch einer denkt auch heute noch so.
Doch dass unsere Freiheit keineswegs so grenzenlos ist, hat uns die Corona-Pandemie schmerzhaft vor Augen geführt, auch wenn manche das nicht wahrhaben wollen und ihre liebgewordene Freiheit gegen Abstandsregeln und Maskenpflicht verteidigen. Da kommt es zu unschönen Szenen, wenn Feiernde in Party-Laune alle Vorsichtsmaßnahmen vergessen und zunehmend gereizt und aggressiv auf vermeintliche »Spielverderber« reagieren, die ihnen Grenzen aufzeigen und an ihre soziale Verantwortung appellieren. Vielleicht ist die Unsicherheit oder auch Unwilligkeit, auf Krisen angemessen zu reagieren, das Resultat der glücklichen bundesdeutschen Jahrzehnte, die uns glauben machte, es müsse einfach immer so weitergehen. Relikte einer Schönwetterrepublik.
Da lässt die neue Sinus-Jugendstudie aufhorchen. Belegten »Freiheit und Erfolg« jahrelang die Spitzenpositionen im Werte-Ranking, so stehen bei den Jugendlichen heute Werte wie »Familie, Treue und Leistung« an erster Stelle. Ihnen geht es offensichtlich weniger um Lifestyle als um einen verantwortungsbewussten Lebensstil, weniger um einen zügellosen Individualismus als um den Wert von Gemeinschaft, Gesellschaft, Familie. »Die Jugend wird ernster, problembewusster und weniger hedonistisch«, so das Fazit der Forscher. »Dementsprechend sehnen sie sich vermehrt nach Sicherheit, Halt und Geborgenheit.«
»Ihr seid zur Freiheit berufen«, ruft der Apostel Paulus seinen Zeitgenossen ins Gedächtnis. »Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand, sondern dient einander in Liebe!« (Gal 5,13) Eine Mahnung, die auch für uns Heutige nichts an Deutlichkeit vermissen lässt: Freiheit, die nichts mit Selbstverliebtheit zu tun hat, sondern mit Verantwortung und Einsatzbereitschaft. Ich finde es bemerkenswert und ermutigend, dass gerade die jüngere Generation uns daran erinnert, was wirklich die Ideale sind, die die Welt bewegen. Es ist die Freiheit, die ich meine: sie muss sich bewähren in dem Einsatz für das Ganze.
Jedes Leben zählt (26.06.2020)
»Kommst Du mit? Wir gehen demonstrieren.« – »Wogegen denn?« – »Falsche Frage: Wofür! Für das Leben. Jedes Leben zählt. Black Lives Matters!« Ich fand das gut: zum einen, dass unsere jungen Kollegen und Kolleginnen für eine gute Sache auf die Straße gehen wollten; und zum anderen, dass sie mich gefragt hatten, ob ich mitkomme. Es gehe darum, ein Zeichen zu setzen, dass jedes Leben wertvoll ist, egal welcher Nationalität, Hautfarbe, Geschlecht, religiösen Bekenntnisses oder ethnischer Herkunft.
Die Bilder von Tod des Afroamerikaners George Floyd, der durch einen brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis ums Leben kam, hatten mich sehr erschüttert. Ich habe dort wenige Jahre zuvor einige Zeit gelebt, im Pfarrhaus der Saint Olaf Catholic Church, und erinnere mich, wie selbstverständlich wir dort miteinander gebetet und gearbeitet, gefeiert und gelacht haben. Ich denke an unsere afroamerikanischen Sängerin im Gottesdienst, die indisch stämmigen Ministranten, unseren afroamerikanischen Finanzchef ... Father Patrick, der Pfarrer der Gemeinde, berichtete von der großen Solidarität in diesen Tagen und von dem Engagement, mit dem sich die Gemeindemitglieder für Menschen aller Hautfarben einsetzen. Nicht nur schwarzes, jedes Leben zählt - auch das Leben der Obdachlosen, die nebenan untergebracht und versorgt werden; auch das Leben von armen, meist afroamerikanischen Familien, deren Häuser in einer große angelegten Gemeindeaktion repariert werden (Habitat for Humanity); auch das Leben der Kinder von Immigranten in der Risen Christ School, zu 80% Latinos, die nicht nur schulisch, sondern ganzheitlich gefördert und auf das Leben vorbereitet werden.
Jedes Leben zählt, und nicht nur ein bisschen, sondern ganz, voll umfänglich. Auch hier bei uns, und ich habe den Eindruck: Da ist noch einiges zu tun, auch dann, wenn die starken Bilder der Proteste wieder in den Hintergrund rücken. Die Verpflichtung bleibt, dass wirklich jedes Leben zählt. »Was ist er Mensch, Gott, dass du an ihn denkst«, geht mir ein Psalmvers nicht aus dem Sinn. »Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt.« (Psalm 8) Jeder Mensch, gleich welcher Identität: ein Ebenbild Gottes. Jedes Kind, das geboren wird, ein Gottesgeschenk. Wer sind wir, dass wir Unterschiede machen?!
Kolumne der Zuversicht (17.05.2020)
»Machen Sie’s gut, und bleiben Sie zuversichtlich!« Ein wohlmeinender, bestärkender Gruß, mit dem Ingo Zamperoni jeden Abend die Fernsehnation in die Nacht entlässt. Zuversicht: das ist mehr als der nüchtern-rationale Appell: Halten Sie durch!, mehr auch als die kämpferisch-auflehnende Unmutsäußerung: Jetzt reicht’s!, weitaus mehr als das fatalistisch-apathische Achselzucken: Was kann man da schon machen ... – Jede dieser Haltungen ist verständlich: Die täglichen Infektions- und Mortalitätszahlen, die Reproduktionsrate (R), die Warten auf die Corona-App … all das bestimmt weithin unser Leben, und uns bleibt nichts anderes übrig, als möglichst »heil« durch die Krise zu kommen. Und ja, je länger die Krise dauert, desto ungeduldiger werden wir, erst recht, wenn die berufliche Existenz auf dem Spiel steht oder die Nerven blank liegen ob der Enge und der Doppel- und Dreifachbelastung; wenn Beschränkungen teilweise gelockert werden, man selber aber noch vom Shutdown betroffen ist; wenn man seine ganze Hilflosigkeit spürt, voneinander getrennt zu sein, erst recht die Ohnmacht, wenn auch die beste Intensivmedizin nicht jedes Leben retten kann.
Ungeduld, Ärger, Auflehnung, Neid, Fatalismus … – eine ganze Palette an Gefühlsregungen zeigt sich da, und jede dieser Stimmungen ist für sich genommen verständlich – hilft aber im Moment nicht weiter. Wie kann man da »zuversichtlich« sein? Zuversicht, so der Duden, meint »festes Vertrauen auf eine positive Entwicklung in der Zukunft, auf die Erfüllung bestimmter Wünsche und Hoffnungen«. Das hört sich gut an; aber momentan erleben wir, dass wir nur »auf Sicht« fahren, dass uns die Übersicht fehlt, der große Durchblick versperrt ist. Woher also nehmen wir diese Zuversicht, die positive Sicht auf die Zukunft, das Vertrauen, dass am Ende doch alles gut wird?
Psychologen und Managementtrainer sprechen häufig von »Resilienz«: jener Kraft, die in uns steckt, mit der man es vom Boden wieder auf die Beine schafft. Die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und Schicksalsschlägen besser und schneller standzuhalten. Da mag es hilfreich sein, sich daran zu erinnern, dass man schon andere schwierige Zeiten durchgestanden hat; und uns mag beflügeln, dass andere uns zutrauen, dass wir die Probleme lösen können und die Herausforderungen meistern werden.
Wenn von Zuversicht die Rede ist, dann klingt da die urtümliche Bedeutung mit: »sich zu jemandem versehen«, was so viel bedeutet wie »auf jemanden vertrauen«. Das mag uns ermutigen, nicht ängstlich die Augen vor der Zukunft zu verschließen, sondern genauer hinzuschauen und in dem Undurchsichtigen und Unübersichtlichen bereits erkennen, wem man in all dem Ungemach vertrauen kann. Vielleicht gerade so, wie es Menschen schon immer getan haben, wenn sie betend in ihre Not hineinfragen: »Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?«, und die schon im Sprechen bereits die Antwort erahnen: »Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde erschaffen hat«. Auch dann müssen wir tapfer und vorsichtig tastend vorangehen, aber doch mit einem Grundgefühl der Gottverbundenheit. In diesem Sinn: »Machen Sie’s gut, und bleiben Sie zuversichtlich!«