Die zivilisierte Welt ist in ihren Grundfesten erschüttert. Es herrscht grenzenloses Entsetzen über die Tat eines Fanatikers, der gestern in eine christliche Kirche in Nizza eindrang, wahllos auf Gottesdienstteilnehmer einstach, drei von ihnen bestialisch ermordet hat. Es ist die Stunde der Anteilnahme, der Trauer, des tiefempfundenen Mitgefühls mit den Familien der Opfer. Der Angriff in einer Kirche, heißt es in einem Kondolenzschreiben aus dem Vatikan, habe „an einem Ort der Liebe und des Trostes den Tod gesät“.
Aber in die Trauer und Bestürzung mischt sich auch Wut: „Ich habe die Nase voll von diesen (Mohammed-) Karikaturen – sie haben zu einem Krieg geführt! Wir haben mit der Sache überhaupt nichts zu tun, aber man greift die Kirchen, man greift uns an. Das hat uns die sogenannte Laizität eingebrockt, die sogenannte Freiheit“, so der Pfarrer der Kirche, Jean-Louis Giordan, in einer ersten hoch emotionalen Reaktion (Vatican News).
Was ist los, so möchte man fragen, in einem Land, das sich seiner großen freiheitlichen Errungenschaften rühmt: der „Grande Nation“, so stolz auf ihre nationale Identität, die heiligen Werte der „République“? In einem Land, in dem der Präsident noch auf der Trauerfeier für den regelrecht hingerichteten Lehrer Samuel Paty dazu aufruft, das Recht auf Gotteslästerung zu verteidigen, während in den Sozialen Medien der von der Polizei erschossene Attentäter als Märtyrer gefeiert wird.
Die Gewalttat in Nizza erinnert in ihrer Grausamkeit an den Angriff in einer Kirche in Saint-Etienne-du-Rouvray in der Normandie im Juli 2016, für das die Terrormiliz „Islamischer Staat“ die Verantwortung übernahm. Damals schnitt ein Attentäter dem 80-jährigen Geistlichen Jacques Hamel in dem Gotteshaus die Kehle durch. - Wo Religion, so der offensichtliche Zusammenhang, aus dem öffentlichen Leben verbannt wird, kehrt sie in der Fratze des Fundamentalismus wieder zurück, und auf eine geradezu bestürzende Weise bewahrheitet sich in diesen Tagen ein Wort Jesu : „Es kommt die Stunde, in der jeder, der euch tötet, meint, Gott einen heiligen Dienst zu leisten. Das werden sie tun, weil sie weder den Vater noch mich erkannt haben.“ (Joh 16,2-3) Wir müssten neu und anders über das Verhältnis von Religion und Gesellschaft nachdenken, darüber woraus unsere Gesellschaft ihre humanisierende Kraft und ihre zivilisatorische Grundierung bezieht.
Dortmund, 30.10.2020 Dr. Peter Klasvogt, Akademiedirektor