Johannes Horstmann, ehemaliger Studienleiter unserer Akademie, verstarb am 8. Oktober im Alter von 79 Jahren. Er war ein Kind des Ruhrgebiets und ein Kriegskind - 1943 geboren, der Vater starb als Soldat im Krieg, absolvierte er zunächst eine kaufmännische Ausbildung und gehörte dann zur ersten Studierendengeneration der neu gegründeten Ruhr-Universität Bochum. Am Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre der Kath.-Theol. Fakultät war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter, bevor er 1979 als Studienleiter zur Katholischen Akademie Schwerte kam, der er fast dreißig Jahre lang, bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2008, angehörte.
Das Ruhrgebiet und insbesondere dessen bis heute andauernder Strukturwandel von einer durch die Montanindustrie geprägten, ja auch schwer gezeichneten Region hin zu einer vielfältigen, blühenden, liebens- und lebenswerten Kulturlandschaft faszinierte ihn als ein Biotop der Moderne. Diese Faszination fand ihren Niederschlag in zahlreichen Seminaren und Exkursionen im Programm der Akademie. Neben dieser Verortung in der konkreten Lebenswelt des Ruhrgebiets bildete die Frage nach dem Verhältnis der katholischen Kirche, genauer des Katholizismus zur Moderne den Rahmen seiner Arbeit. Er bestimmte die Themen seiner vielfältigen wissenschaftlichen Interessen und Aktivitäten und war bereits in seiner Dissertation – »Katholizismus und moderne Welt: Katholikentage, Wirtschaft, Wissenschaft. 1848 bis 1914« – grundgelegt. Es ging ihm um die zeitgemäße Verortung des Katholischen unter den Bedingungen der Gegenwart. Er deklinierte die Fragestellung in den unterschiedlichen, breit gefächerten, immer mit einem klaren soziologischen Blick verfolgten Arbeitsfeldern durch. Am intensivsten wohl im Felde des Films, aber auch – in der ersten Dekade seiner Studienleiterzeit – am Beispiel der sich ändernden Familienstrukturen. Die Akademie war hierfür das ideale Biotop. Denn die unsere Arbeit bestimmende Verbindung von Wissenschaft und Forschung auf der Höhe der Zeit mit der Wissens- und Wissenschafts-Vermittlung an ein breites Publikum deckte sich mit seinem eigenen pädagogischen Ansatz. Als Wissenschaftler hatte er ein stark ausgeprägtes Gespür für die anstehenden Fragen und Desiderate der Forschung. Und er stellte sich selbst und die Akademie immer dann in den Dienst der Wissenschaft, wenn diese nach einem Ort der Vernetzung und des Austausches verlangt. Sei es im Bereich der Theologie oder Religionswissenschaft (Qumranforschung, Pastoraltheologie), sei es in der (kirchlichen) Zeitgeschichte (Schwerter Arbeitskreis Katholizismusforschung, Arbeitskreis Filmarchivierung NRW) oder an der Schnittstelle von Theologie und Filmwissenschaft (Forschungsgruppe Film und Theologie). Zugleich entwickelte der begnadete Vermittler aus diesen Verbindungen Veranstaltungsformate, die sich in bester Tradition der »Erwachsenenbildung« an Menschen jenseits der engeren fachwissenschaftlichen Community richteten.
Mir persönlich sind aus meiner Zeit als Schüler und Student, den es aus Dortmund immer wieder in die Akademie nach Schwerte zog, die zahlreichen Filmtagungen der 1980er und 1990er Jahr in starker, prägender Erinnerung: Die »Bergman-Woche« aus Anlass des 70. Geburtstages von Ingmar Bergman im Frühjahr 1988 hat mich dauerhaft mit dem »Filmvirus« infiziert. Die Zentralwerke des schwedischen Großmeisters der Filmkunst wurden – damals noch in 35- und 16mm-Kopien – aufwändig nach Schwerte geholt, in der Akademie einem aus ganz Deutschland angereistem Publikum gezeigt und mit den führenden Experten analysiert. Aktuelle Filme präsentierte die Reihe »Film provokativ«. Nach der kurz eingeleiteten Sichtung folgten ausführliche Analyse – zumeist mit externen Filmwissenschaftler*innen – und Diskussionen an die sich die erneute Sichtung des Films anschloss. Die Zeit, die das Medium Spielfilm benötigt, wurde ihm gegeben und der zweite Blick, führte zu einem vertieften Verstehen. Provozierende und provokante Filme von Achternbusch oder Abel Ferrara führten die Teilnehmenden zu an- und aufregendem Nachdenken. Krzysztof Kieslowskis Dekalog-Zyklus war ein weiteres, einprägsames filmisches Großereignis, dem Johannes Horstmann in einer Filmwoche den gebührenden Raum bot – und das hier nur als ein Beispiel für viele weitere genannt werden kann. Und schließlich die Reihe »Kirchen und Kino. Der Filmtipp«. Von Horstmann in der Zeit der renovierungsbedingten Schließung der Akademie in den Jahren 2000-2002 entwickelt, präsentiert sie noch heute, mittlerweile in ihrer 20. Saison, herausragende Filme, die von der katholischen und evangelischen Filmarbeit ausgezeichnet wurden, einem breiten Publikum an 25 Orten in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Hessen. An diesem Projekt lässt sich die Denk- und Arbeitsweise von Johannes Horstmann idealtypisch ablesen. Auf der Basis seiner jahrzehntelangen Erfahrung im Bereich kirchlicher Filmarbeit war ihm die hohe Expertise der Kirchen im Bereich der Bewegtbilder vollkommen klar. Als Vermittler fragte er sich aber zugleich: Wie lässt sich diese Expertise für ein größeres Publikum im säkularen Kulturraum des Kinos sicht- und fruchtbar machen? Als kaufmännisch geschulter Pragmatiker verknüpfte er diese Frage mit der Frage der Machbarkeit und Nützlichkeit. In der Zeit der zweijährigen Akademieschließung ging es ihm auch darum, die Akademie als einen Dienstleister für die kirchliche Bildungsarbeit in der Fläche des Erzbistums zu verankern. Und dies nicht top-down, sondern in enger Abstimmung mit den Partnern vor Ort – und das Ganze so durchgerechnet, dass die Kosten für alle Beteiligten auch auf längere Sicht tragbar bleiben.
Sich selbst und die Akademie in den Dienst von Themen zu stellen, die den Menschen hilfreich seien könnten. Die Schaffung der »Bedingung der Möglichkeit« – ohne dogmatische Vorgaben, aber immer auf die Zentralperspektive ausgerichtet, »wie denn Leben gelingen kann«, wie sich die Sehnsucht nach einem »Mehr an Leben« verwirklichen lässt. Den Menschen neue Vorstellungen nahe zu bringen, sie mit der Welt, nicht zuletzt mit der Welt des Films, in Kontakt zu bringen. Das war Johannes Horstmann wichtig und er hat enorm viel Arbeit und Ideen in diese Vermittlungsarbeit gesteckt. Bei alledem war er kein Einzelkämpfer, sondern ein Team-Player und Netzwerker. Eines, vielleicht das wichtigste Netzwerk, dem er bis zu seinem Tode im Projekt »Religion im Film« verbunden blieb, war die Katholische Filmkommission für Deutschland, der er mehr als zwei Jahrzehnte als berufenes Mitglied angehörte. Seine letzte wissenschaftliche Publikation galt – man könnte sagen: folgerichtig - dem Filmdienst, der von der Kommission herausgegebenen, mittlerweile als Online-Angebot erscheinenden, katholischen Filmzeitschrift, die in diesem Jahr ihren 75. Geburtstag feierte. Im Sommer veröffentlichte er dort seinen umfangreichen Beitrag „Vom Amtsblatt zum Journal. Notizen zu den ersten zwei Jahrzehnten des Filmdienst bis Ende der 1960er Jahre“ (https://www.filmdienst.de/artikel/56546/75-jahre-filmdienst-vom-amtsblatt-zum-dialogischen-journal)
Auch jenseits des Films war ihm die Schaffung von Lern- und Begegnungsräumen wichtig. So bestehen bis heute die von ihm begründeten »Bibeltheologischen Tage in der Karwoche«, die es Menschen auch ohne Kenntnisse der Bibelsprachen Hebräisch und Griechisch ermöglichen, auf der Höhe aktueller theologischer Forschung und mit erstklassigen Referent*innen die Welt der Bibel zu erkunden. Die »FilmEinkehrtage zwischen den Jahren« verknüpfen klassische Formen christlicher Spiritualität und intensives Sich-Einlassen auf Filme in kongenialer Weise. Gemeinsam ist allen Projekten, die Johannes Horstmann in den fast dreißig Jahren seiner Studienleitertätigkeit an der Akademie initiierte, die Sorgfältigkeit der Planung, die wohlüberlegten Strukturen und das absolute Ernstnehmen ihrer jeweiligen Inhalte und Gegenstände. Es ging ihm nie um Schnellschüsse. Dazu hat er die Menschen – handelte es sich nun um Wissenschaftler*innen oder um ernsthaft an der eigenen Bildung Interessierte – zu ernst genommen. Über seiner Todesanzeige steht sein Lebensmotto, mit dem er sich bereits in den aktiven Ruhestand verabschiedet hatte:
»Ich will mich um der Menschen willen einmischen.«
Das hat Johannes Horstmann gemacht. Und er hat es sehr gut gemacht. Die Katholische Akademie und die Menschen, die ihn in seinen Tagungen und Projekten begleiten durften, werden ihn dafür in dankbarer Erinnerung behalten. (M. L.)